23. Februar 2018
Pressemitteilung
Kampagne
LAG

Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung



Modellprojekt startet in Rheinland-Pfalz


v.l.n.r.: Eva Weickart (Leiterin des Frauenbüros der Stadt Mainz), Univ.-Prof. Dr. Tanja Germerott (Leiterin des Instituts für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Mainz), Univ.-Prof. Dr. Annette Hasenburg (Direktorin der Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe und Frauengesundheit der Universitätsmedizin Mainz), Ministerin Anne Spiegel, Anette Diehl und Vanessa Kuschel (beide Frauennotruf Mainz); Foto: Martina Trojanowski

Frau M. wird nach einer Betriebsfeier von einem Kollegen, der ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu fahren, vergewaltigt. Sie ist traumatisiert, gedemütigt und völlig verwirrt. Sie schämt sich und hat den Eindruck des völligen Kontrollverlustes über sich selbst und ihren Körper. Sie hat körperliche Verletzungen, diffuse Schmerzen und Angst. Sie möchte sich waschen, ihre Schmerzen einordnen. Sie will auf keinen Fall jetzt Anzeige erstatten.

Sie braucht medizinische Versorgung, um zu wissen, ob sie krank oder verletzt ist und ob sie Medikamente einnehmen sollte. Sie braucht ein erstes kurzes Krisengespräch zur Ordnung und Klärung der Situation, das Gefühl von äußerer und innerer Sicherheit, und sie muss die Kontrolle über sich und ihren Körper zurückgewinnen. Sie muss wissen, wo sie zeitnah eine spezialisierte Beratungsstelle finden kann.

Wo kann sie das finden, ohne Angst haben zu müssen, zu einer Anzeige gedrängt zu werden?

„Viele erwarten von vergewaltigten Frauen, dass diese schnell Anzeige erstatten. Unsere Erfahrung jedoch zeigt: Frauen und Mädchen, die akut Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung geworden sind, brauchen zuerst eine umfassende medizinische und psychosoziale Versorgung“, weiß Anette Diehl vom Frauennotruf Mainz. „Darüber hinaus – und erst im zweiten Schritt – sollte die Möglichkeit einer vertraulichen bzw. verfahrensunabhängigen Spurensicherung, die später gerichtsverwertbar ist, angeboten werden“, fügt ihre Kollegin Vanessa Kuschel an.

In Hessen und Baden-Württemberg gibt es dieses Angebot der Soforthilfe nach einer Vergewaltigung bereits. In Rheinland-Pfalz sollen nun Mainz und Worms Projektstandorte des neuen rheinland-pfälzischen Modellprojekts „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ werden.

Hauptsächlich wird das Vorhaben vom Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz finanziert. Besonders die Verbesserung der Situation von vergewaltigten Frauen und Mädchen liegt Ministerin Spiegel am Herzen: „Das Modellprojekt schließt eine eindeutige Lücke in der Versorgung von Frauen und Mädchen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Wir können damit Frauen in Krisensituationen deutlich besser unterstützen als bisher und mit einer umfassenden Versorgung und Beweissicherung langfristige Folgen reduzieren“, betont Ministerin Spiegel.

„Wir sind sehr froh, dass Mainz eine der beiden Modellprojekt-Städte ist und betroffene Frauen und Mädchen dank der finanziellen Unterstützung des Frauenministeriums hier ein weiteres, an ihrer Situation orientiertes Angebot bekommen“, erklärt Eva Weickart, Leiterin des Frauenbüros, für die Landeshauptstadt Mainz. Begrüßt werde auch, dass der Frauennotruf Mainz Träger des Projektes sei und damit die seit Jahrzehnten bestehende Verbindung zu den anderen, etwa im Arbeitskreis Gewalt an Frauen und Kindern Mainz engagierten, Beratungs- und Unterstützungsstellen gewährleistet werden könne. Verstärkte Öffentlichkeitsarbeit in Form von Plakaten und Faltblättern soll den Betroffenen den Weg in die medizinische Versorgung zeigen.

Ein weiteres zentrales Anliegen ist, Ärztinnen und Ärzte Sicherheit im Umgang mit vergewaltigten Mädchen und Frauen zu vermitteln - Fortbildungen und Informationsveranstaltungen und eine bessere Vernetzung sollen dies ermöglichen. „Betroffene Frauen und Mädchen haben nach einer Vergewaltigung oft das Bedürfnis nach einer medizinischen Versorgung und auch nach einer Spurensicherung. Gleichzeitig ist die Bereitschaft, Anzeige zu erstatten, gering – manchmal kommt der Wunsch dazu erst nach Jahren. An dieser Stelle greift das Modellprojekt „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ auch ohne Anzeige! In unserer Frauenklinik behandeln wir die betroffenen Frauen und ihre Verletzungsfolgen professionell und vor allem unabhängig davon, ob sie sofort eine Anzeige erstatten wollen oder nicht. Spuren werden gesichert, aber oberste Ziele sind die medizinische Akutversorgung und den Frauen den Weg in das unterstützende Hilfesystem zu erleichtern“, betont die Direktorin der Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe und Frauengesundheit der Universitätsmedizin Mainz Univ.-Prof. Dr. Annette Hasenburg.

Die Frauennotrufe sind damit beauftragt, die Veränderungen in der Versorgungsstruktur gemeinsam mit den beteiligten Kliniken – Universitätsmedizin Mainz und Stadtkrankenhaus Worms – auszuarbeiten, die Fortbildungen für Ärztinnen und Ärzte zu organisieren und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Eine repräsentative Dunkelfeldstudie aus dem Jahr 2004[1] zeigt, dass 13 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen seit dem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt (Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung und unterschiedliche Formen von sexueller Nötigung) erlebt haben. Das ist fast jede siebte Frau.

Die meisten Vergewaltigungen werden nicht angezeigt. Polizeilich erfasst wurden in Rheinland-Pfalz im Jahr 2015 insgesamt 346 Vergewaltigungen. Die im Vorfeld genannte Studie geht von einer sehr hohen Dunkelziffer aus. Auch neuere Studien zeigen: Die größte Gruppe der Betroffenen ist direkt nach der Tat nicht in der Lage, eine Entscheidung für oder gegen eine Anzeige zu treffen. Diese Frauen und Mädchen bleiben häufig medizinisch unversorgt, weil sie befürchten, dass eine andere Person über ihren Kopf hinweg eine Anzeige erstattet. „An diese Betroffenen richtet sich die Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“, betont Dr. med. Doris Macchiella, Oberärztin der Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe und Frauengesundheit der Universitätsmedizin Mainz. Die Expertinnen und Experten präferierten ein Modell zur Stärkung der dezentralen Struktur, das dem Projekt in Frankfurt „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ (http://www.soforthilfe-nach-vergewaltigung.de) entspricht: Ansatz ist die Kliniken und niedergelassenen Gynäkologinnen und Gynäkologen als örtliche Anlauf- und Vernetzungsstellen zur Dokumentierung von Verletzungen und zur Spurensicherung zu beauftragen. Die Asservierung wird im Rechtsmedizinischen Institut in Mainz erfolgen.

„Für ein mögliches späteres Strafverfahren sind eine gerichtsverwertbare Befunddokumentation und Spurensicherung von essenzieller Bedeutung. Die Rechtsmedizin übernimmt für das Modellprojekt die sichere Lagerung der Asservate und führt in den beiden beteiligten Kliniken die notwendigen fachlichen Schulungen durch“, erläutert die Leiterin des Instituts für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Mainz Univ.-Prof. Dr. Tanja Germerott.

 

[1]Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.), 2004, Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, Kurzfassung der Untersuchung von Schröttle, Monika und Müller, Ursula, Berlin.

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